Eine Reihe der Mosse Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 2024/25
Die Mosse Lectures sind eine interdisziplinär und international angelegte Vortragsreihe an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Wintersemester 2024/25 widmen sich die Mosse Lectures ländlichen Räumen als Gegenstand kultureller Imaginationen ebenso wie politischer und ökonomischer Vereinnahmungen.
Einzeltermine
Marcus Twellmann: »Berliner Umlandliteratur«
Mit Claudia Stockinger und Ethel Matala de Mazza
Donnerstag, den 12. Dezember 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Betrachtet man die derzeit entstehende
Berliner Umlandliteratur als Bestandteil einer rurbanen Assemblage,
lässt sich eine relationale Perspektive auf unterschiedliche Räume
gewinnen und nach der Teilhabe der Literatur an sozionaturalen Prozessen
fragen. Ohne das Verhältnis von Stadt und Land im Vorhinein als
Gegensatz auszulegen, kann man eine solche, potentiell wirkmächtige
Verwendung der Unterscheidung durch literarische, politische und
wissenschaftliche Akteure in den Blick nehmen. Während manche Beobachter
hier eine gesellschaftliche Spaltungslinie erkennen, wenden andere sich
gegen radikalisierte Diskursakteure, die Konflikte herbeiredeten.
Trifft dieser Vorwurf auch eine kritische Wissenschaft vom
Stadt/Land-Gegensatz? Und wie operiert die Erzählkunst in diesem
Zusammenhang?
MARCUS TWELLMANN:
Literaturwissenschaftler; seit 2021 Professor für Neuere deutsche
Literatur an der Universität Hamburg. Marcus Twellmann leitete die
Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären«
an der Universität Konstanz und war im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle
Grundlagen von Integration« als wissenschaftlicher Koordinator tätig.
Seine Forschungsinteressen gelten der Literatur- und Kulturtheorie sowie
der neueren deutschen Literatur im globalen Kontext, insbesondere
reisenden Formen. 2019 erschien die Studie »Dorfgeschichten. Wie die
Welt zur Literatur kommt« im Wallstein Verlag.
CLAUDIA STOCKINGER:
Literaturwissenschaftlerin; Professorin für Neuere deutsche Literatur
(17. – 19. Jahrhundert) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2022
leitet Claudia Stockinger das Teilprojekt »Populäre Narrative des guten
Lebens. Wechselverhältnis von Medizin und Zeitlichkeit im deutschen
Fernsehen« der DFG-Forschungsgruppe 5022 »Medizin und Zeitstruktur des
guten Lebens«. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten der
Literaturgeschichte der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, der
Literatur und dem Literaturbetrieb der Gegenwart, der Theorie der
Kanonbildung, der Intertextualität und Autorschaft sowie der ruralen
Moderne.
Anja Decker: »Ländliche Peripherien als plurale Erfahrungsräume«
Mit Joseph Vogl
Donnerstag, den 16. Januar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Lebenschancen und
Handlungsspielräume in Europas ländlichen Peripherien sind Gegenstand
lebhafter Debatten, die von den Sozial- und Kulturwissenschaften
intensiv mitgestaltet werden. Diagnosen und Zuschreibungen,
Befürchtungen und Hoffnungen sind dabei ebenso vielfältig wie
widersprüchlich: Ländliche Peripherien werden sowohl als benachteiligte
als auch als benachteiligende Regionen in den Blick genommen, in denen
besondere Herausforderungen für die Alltagsbewältigung auftreten.
Gleichzeitig werden sie als Möglichkeitsräume wahrgenommen, in denen
Lösungen im Umgang mit Prekarität und multiplen Krisen entstehen. Ein
Fokus liegt zunehmend auf den politischen Konsequenzen und sozialen
Dynamiken, wenn Regionen und ihre Bevölkerung als ›abgehängt‹ oder
›innovationsfern‹ verstanden oder als Träger*innen von ›Potentialen‹ in
die Verantwortung genommen werden. Doch wie erfahren Bewohner*innen
ländlicher Peripherien ihre Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten?
Welche räumlichen und zeitlichen Bezüge kommen dabei zum Tragen? Welche
Lektionen ergeben sich aus den alltäglichen Aushandlungen
unterschiedlicher Wahrnehmungen vor Ort? Ausgehend von langjährigen
ethnographischen Forschungen und qualitativen Interviews in Tschechien
untersucht der Vortrag subjektive Konstruktionen von
Handlungsmächtigkeit aus der Perspektive von Bewohner*innen ländlicher
Peripherien.
ANJA DECKER: Kulturanthropologin; Anja
Decker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut
der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu ihren
Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Anthropologie ländlicher Räume
insbesondere die Prekaritäts- und Ungleichheitsforschung. Sie ist
Co-Initiatorin der Kommission Kulturanalyse des Ländlichen der Deutschen
Gesellschaft für Volkskunde, deren Sprecherin sie von 2017-2021 war. In
deutscher Sprache erschien zuletzt von ihr der mit Manuel Trummer
herausgegebene Band »Das Ländliche als kulturelle Kategorie«.
Daniela Danz: »Berichte aus der zentralen Provinz«
Mit Stefan Willer
Donnerstag, den 23. Januar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Diskrepanz von ländlichen und
urbanen Räumen hat, wie die jüngsten Wahlen zeigten, das Potential,
politische Dynamiken in Gang zu setzen und wird eines der Zukunftsthemen
in Hinsicht auf die gesellschaftliche Transformation sein. Wie man
dieses Spannungsfeld poetisch fassen kann, damit setzt sich Daniela Danz
in ihren Texten auseinander. Ihre Mosse Lecture wirft die Frage auf,
wie die Poetisierung des ›Ländlichen‹ ländliche Räume nicht nur als
geografische Orte, sondern auch als ein charakteristisches Geflecht von
Bezügen zwischen Geschichte und Gegenwärtigkeit erfahrbar macht.
DANIELA DANZ: Lyrikerin, Romanautorin,
Essayistin und Herausgeberin; Vizepräsidentin der Akademie der
Wissenschaften und Literatur Mainz und seit 2022 Mitglied der
Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Daniela Danz‘ Lyrik wurde in
verschiedene Sprachen übersetzt, darunter Englisch, Arabisch,
Französisch, Spanisch, Serbisch, Tschechisch, Polnisch, Armenisch und
Albanisch. Die englische Übersetzung ihres 2020 erschienenen Bandes
»Wildniß« (Übers. v. Monika Cassel) war Finalist des Rhine Translation
Prize. 2019 erhielt sie den Deutschen Preis für Nature Writing, 2023 den
Thüringer Literaturpreis. Zuletzt erschien der Essayband »Nichts ersetzt den Blick ins Gelände« im Wallstein Verlag.
Frank A. Ewert: »Landwirtschaft quo vadis? Perspektiven für eine nachhaltige Transformation des Agrar- und Ernährungssystems«
mit Lothar Müller
Donnerstag, den 13. Februar 2025 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Landwirtschaft steht vor enormen
Herausforderungen, die viele Bereiche umfassen, wie
Ernährungssicherheit, Klimawandel, Degradation natürlicher Ressourcen,
Artenschwund, volatile Preise und instabile Lieferketten. Auch künftige
Generationen und Menschen im Globalen Süden müssen ausreichend und mit
qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln versorgt werden, die nur auf der
Basis intakter Ökosysteme erzeugt und bereitgestellt werden können.
Nachhaltige Lösungen gehen mit Zielkonflikten einher und erfordern die
bestmögliche Nutzung von Synergien.
Historisch betrachtet hat die
Landwirtschaft die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft fundamental
geprägt, hat aber auch selbst große Veränderungssprünge erfahren und
befindet sich gegenwärtig vor dem umfangreichsten Wandel der letzten
Jahrhunderte. Der notwendige und dringliche Transformationsprozess des
Agrar- und Ernährungssystems verläuft jedoch nur schleppend und kann den
wachsenden Anforderungen stets weniger entsprechen. Nicht zuletzt
überfordern Größe, Geschwindigkeit und Umfang der Herausforderungen und
die Tragweite der notwendigen Veränderungen die beteiligten Akteure aus
Politik, Praxis, Forschung, Industrie und Gesellschaft. Dennoch lassen
sich Ansätze finden, die einen erfolgreichen Einstieg in den komplexen
Transformationsprozess versprechen. Der Vortrag beleuchtet die enormen
Herausforderungen der Landwirtschaft und entwirft Perspektiven einer
Transformation zu nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen, die
vielfältige Funktionen erfüllen, wie Ernährungssicherheit, den Erhalt
von Ökosystemen und Biodiversität und Klimaschutz. Beispielhaft werden
Ansätze dargestellt und diskutiert, wie sie den Transformationsprozess
beschleunigen können.
FRANK A. EWERT: Agrarwissenschaftler;
Professor für Pflanzenbau an der Universität Bonn. Frank A. Ewert leitet
das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF e.V.). Er zählt
zu den Highly Cited Researchers im Bereich Agrarwissenschaften und ist
unter den Top100 der Reuters »Hot List« der weltweit einflussreichsten
Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Zu seinen Fachgebieten
zählen die Nutzpflanzenwissenschaften, die Produktionsökologie,
Systemanalyse und die Modellierung von Pflanzenwachstum. Darüber hinaus
sind thematische Schwerpunkte seiner Arbeit die Nachhaltigkeitsbewertung
sowie die Abschätzung von Folgen und Einfluss des Klimawandels auf
Pflanzenproduktionssysteme, Ernährungssicherheit und Ressourcenschutz.
Die Reihe
Landleben
Zwischen Idylle und Provinz liegt ein
weites Feld. Auf der einen Seite sehen sich ländliche Kommunen mit
vehement sinkenden Bevölkerungszahlen und ›sterbenden Dörfern‹
konfrontiert; andererseits setzt das Versprechen eines ›einfachen‹ und
naturnahen Lebens nicht erst seit den Künstlerkolonien der Moderne tiefe
Sehnsüchte eines (groß-)städtischen Blicks auf ländliche Räume frei.
Dabei ist schon von den frühen Arbeiten der Rural Sociology und
ihrem Bemühen um eine differenziertere Analyse ländlicher
Gesellschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts klar benannt worden, dass
rurale Lebenswelten komplexer sind, als die Rede von der
Dorfgemeinschaft und das hartnäckige (Vor-)Urteil ihrer Rückständigkeit
gegenüber einer städtischen Moderne nahelegt.
Tatsächlich eröffnen
gerade die historischen Transformationen des Dorfes – und seiner
Geschichten – einen neuen Blick auf die Peripherien der Moderne.
Erkennbar wird darin, dass ›Land‹ in seiner materiellen räumlichen
Struktur als (endliche) Ressource fernab stereotyper Romantisierungen
einen zentralen Schauplatz in der Geschichte gesellschaftspolitischer
Konfliktlagen und sozialer Ausdifferenzierungen darstellt. Das
›Ländliche‹ geht aus kulturellen Deutungsschemata und Ästhetisierungen
hervor, auch ländliche Lebensformen erweisen sich als zutiefst von
gesellschaftlichen Dynamiken geprägt.
Im Wintersemester 2024/25 unternehmen
die Mosse Lectures diskursive Ausflüge aufs Land und betrachten
ländliche Räume als Gegenstand kultureller Imaginationen ebenso wie
politischer und ökonomischer Vereinnahmungen:
Wie haben sich ländliche
Lebensformen in der Moderne gewandelt, wie wurde und wird das
›Ländliche‹ in der Vielzahl seiner konkreten Ausformungen als (zumeist
vom städtischen Blick überformtes) Deutungsschema beschrieben und
imaginiert? Ist die ›Provinz‹ Austragungsort einer alternativen,
anti-metropolitanen Politik? Wo verläuft die Grenze von Stadt und Land
als Kultur- bzw. Naturraum – und: gibt es sie angesichts der
funktionalen Verbindungen zwischen den Räumen überhaupt? Wie arbeitet
die Literatur an der Errichtung, Verschiebung oder Auflösung von
Stadt-Land-Grenzen und welche Herausforderungen stellen sich für eine
zunehmend in Städten lebende Gesellschaft hinsichtlich der Bedingungen
und Grenzen ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft?
Einzeltermine: 12.12.2024 (Marcus Twellmann, Literaturwissenschaftler), 16.01.2025 (Anja Decker, Kulturanthropologin), 23.01.2025 (Daniela Danz, Autorin), 13.02.2025 (Frank A. Ewert, Agrarwissenschaftler)
Zusätzliche Informationen
Informationen zur Barrierefreiheit
Der Senatssaal der Humboldt-Universität (Unter den Linden 6) ist barrierefrei zugänglich.
Teilnehmende Künstler
Marcus Twellmann
Anja Decker
Daniela Danz
Frank A. Ewert
Ethel Matala de Mazza
Joseph Vogl
Stefan Willer
Lothar Müller
Claudia Stockinger