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Abspannwerk Scharnhorst
© Foto: Stefan Joseph Müller

Abspannwerk Scharnhorst

Lichtwart der Berliner Straßenbeleutung

Elektrizität steht in den 1920er Jahren für Berlins Ankunft in der Moderne – mehr noch: Berlins Weltgeltung als Elektropolis.

Das größte Bauwerk der Berliner Elektrizitätswirtschaft entsteht zwischen 1927 und 1929 am Berliner Nordhafen: Das Abspannwerk Scharnhorst, ein Koloss auf 15.000 Quadratmetern Grundfläche. 

Das Werk des Berliner Architekten Hans Heinrich Müller ist ebenso funktional wie faszinierend. Den modernen Stahlskelettbau verkleidet eine individuell gestaltete Fassade der expressiven Moderne mit Anleihen bei mittelalterlicher Backsteingotik und altpersischer Monumentalarchitektur.
Im Kalten Krieg ungünstig an der Sektorengrenze gelegen, befindet sich das Gebäude inzwischen in hochattraktiver Innenstadtlage, ganz in der Nähe von Hauptbahnhof, Charité und Invalidenpark.

Heute ist das Gebäude zwar kein Abspannwerk mehr, beherbergt aber das Kundencenter des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall. In gewisser Weise eine ungewöhnliche Entwicklung: Denn steuern in den 1920er Jahren nur eine Handvoll Mitarbeiter das hochautomatisierte Abspannwerk, arbeiten in dem gleichen Gebäude heute bis zu 700 Beschäftigte in der Kundenbetreuung.

Abspannwerk Scharnhorst
© Fridolin Freudenfett (CC BY-SA 3.0) by wikimedia commons

Die Vermittler für Berlins Elektrizitätswunder

Kraftwerke erzeugen elektrische Energie. Aber ohne Abspannwerke wäre ihre Energie nutzlos, denn die in Kraftwerken erzeugte elektrische Spannung ist viel zu hoch. Betriebe und Privathaushalte könnten sie so nicht nutzen. Strom muss daher auf dem Weg zu den Nutzern „abgespannt“ werden. 

Berlin braucht viel nutzbaren Strom, denn 1920 vereinigt sich die Stadt mit bis dahin unabhängigen Orten wie Spandau, Charlottenburg, Neukölln und Lichtenberg zu Groß-Berlin. Von jetzt an hat die Hauptstadt fast vier Millionen Einwohner. Die Abspannwerke transportieren Strom zu ihnen, indem sie in einem ersten Schritt die Spannung von 30.000 auf 6.000 Volt reduzieren. Noch heute prägen diese Elektrizitätsbauwerke das Stadtbild mit, zum Beispiel


Die neue Anlage am Nordhafen verdankt ihren Namen General Gerhard von Scharnhorst, einem preußischen Heeresreformer aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon. (Scharnhorsts Grab befindet sich ganz in der Nähe des Abspannwerks auf dem Invalidenfriedhof.)

Die Einheit aus Funktion und Ästhetik

Baumeister dieser Abspannwerke ist Hans Heinrich Müller, Leiter der Bauabteilung bei der Berliner Städtische Elektrizitätswerke AG (Bewag). Müller geht es nicht nur um Funktionalität, sondern er verbindet diese mit einem hohen architektonischen Anspruch. Jedem seiner Abspannwerke verleiht er deshalb ein individuelles Aussehen. Das Abspannwerk Kottbusser Tor hat zum Beispiel schnell den Spitznamen „Kathedrale der Elektrizität“, weil Müller ihm das Aussehen einer Kirche im Stil der norddeutschen Backsteingotik verleiht.

Auch beim Abspannwerk Scharnhorst lässt sich Müller unübersehbar von der märkischen Backsteingotik inspirieren. Mit gelben Klinkern verkleidet er die Stahlkonstruktion seines neuen Elektrizitätswerks. Wie schon am Kottbusser Tor setzt Müller an der Schauseite zum Nordhafen zudem einen ganz neun Baustil ein: den Backsteinexpressionismus: Wie gefaltet wirkt die Außenmauer mit ihren dreieckigen, in einer Reihe stehenden Mauerpfeilern. Solch expressive Elemente mit Zacken, Spitzen oder Falten sind damals modern in der Berliner Industriearchitektur. Besonders markant können Sie dies am Borsigturm und am Ullsteinhaus erkennen. 

Mit seiner gefalteten Mauer verbindet Müller die Moderne sogar mit dem monumentalen Erbe der Antike. Der Architekt Hans Achim Grube erkennt in der Schaufassade „deutliche Anklänge an persische Architekturen“.

Die Schaufassade ist aber nicht der einzige Hingucker am Abspannwerk Scharnhorst. Denn die nach Osten ausgerichtete Rückseite ist nicht minder eindrucksvoll. Sieben Transformatorenkammern ragen aus der Außenmauer hervor. Mit ihren Dächern wirken sie wie kleine Häuser, aus denen riesige Schornsteine den Rauch der technischen Anlagen ausstoßen. 

Der Entrauchung und Entlüftung dienen auch die schmalen Lichthöfe, um die herum Müller die Anlagen des Abspannwerkes gruppiert hat. Hier finden sich

  • Schalteinrichtungen
  • Sammelschienen
  • Ölschalter
  • Werkstatt- und Laborräume
  • Stützpunkte zur Stromverteilung

Weniger imposant als die beiden Längsfassaden wirken die kürzeren Seitenfassaden mit ihren langen Fensterreihen. Nur auf den ersten Blick erscheinen diese Fensterreihen völlig gleichmäßig. An den Gebäudeecken sind die Abstände größer, da Müller hier Treppenhäuser einziehen lässt.

Ein Blick auf die Ostfassade zur Straße verrät dem Betrachter, dass Müllers Bau noch mehr ist als ein Abspannwerk. Auf dem Dach, in 25 Metern Höhe, befindet sich ein rundum verglaster Raum – die sogenannte Lichtwarte. Bis in die 1940er Jahre hält von hier aus ein Mitarbeiter der Bewag Ausschau über die Stadt. Je nachdem, wie hell die Sonne scheint oder der Abend sich über Berlin senkt, entscheidet er, wann die Straßenbeleuchtungen ein- oder ausgeschaltet werden. 

Abspannwerk Scharnhorst
Abspannwerk Scharnhorst © Fridolin Freudenfett (CC BY-SA 4.0) by wikimedia commons

Das zweite Leben des Abspannwerks Scharnhorst

Wie die meisten Bauten der Elektropolis Berlin übersteht auch das Abspannwerk Scharnhorst den Zweiten Weltkrieg unzerstört. Noch bis 1984 ist es im Einsatz, aber im Jahr 1992 erfolgt die endgültige Stilllegung. Lange Zeit bleibt unklar, welche Rolle Müllers Bau in Zukunft spielen soll. Die Bewag testet verschiedene Optionen: Ein Hotel, ein Kunstzentrum oder ein Bürohaus – doch alle Pläne zerschlagen sich.

Zwischen 2002 und 2006 erfolgt schließlich die denkmalgerechte Sanierung – verbunden mit einem zukunftsorientierten Umbau des Abspannwerks. Der Bewag-Nachfolger Vattenfall zieht mit einem Kundencenter inklusive Vertriebszentrum und Call-Center ein. Um genügend Raum für die künftigen Mitarbeiter dieses Kundencenters zu schaffen, verändern die Architekten des Umbaus sogar die Geschossebenen. Das zieht weitere Anpassungen des ursprünglichen Baus nach sich: Die Architekten müssen die einst hohen Fenster der Schaufassade den neuen Etagen entsprechend verkleinern und auch die Stufen der Treppenhäuser an die neuen Geschosse angleichen. Die Lichthöfe, die nun keine technischen Anlagen mehr entlüften, wandeln sich zu Atrien mit Glasdach.

Unsere Tipps rund um das ehemalige Abspannwerk Scharnhorst

Da es sich beim ehemaligen Abspannwerk Scharnhorst um ein Geschäftshaus der Vattenfall GmbH handelt, können Sie es leider nicht von innen besichtigen. Ganz in der Nähe haben Sie aber die Gelegenheit, die hochkarätigen Sammlungen des Museums für Naturkunde [interner Link] oder des Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwartskunst [interner Link] zu besuchen. Besinnung versprechen der Invalidenfriedhof und der Invalidenpark, wenn Sie ungefähr eine Viertelstunde nach Süden spazieren. An gastronomischen Angeboten herrscht kein Mangel, zum Beispiel gleich auf der anderen Uferseite in Moabit. Dort bietet sich der Besuch in einem der Konzerte, Ausstellungen, Theater- oder Kinoaufführungen der Kulturfabrik Moabit an.

Praktische Infos von visitBerlin

Fahren Sie für das Abspannwerk Scharnhorst am besten mit der U-Bahn-Linie 6 bis zur Haltestelle Reinickendorfer Straße. Von dort sind es ca. 500 Meter zu Fuß bis zum Ziel in der Sellerstraße 16-26. Um die Stadt zu erkunden empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin WelcomeCard.

Abspannwerk Scharnhorst
Abspannwerk Scharnhorst © Fridolin Freudenfett (CC BY-SA 3.0) by wikimedia commons

Hinweise für Fahrradfahrer

Das Abspannwerk Scharnhorst liegt an der Fahrradroute:Fahrradroute: Warmes Licht und kühles Bier
Weitere Fahrradrouten finden sind in unseren Tourenvorschlägen