
In dieser energetisch dichten Inszenierung der Erzählung von Christa Wolf tritt Kassandra erschreckend gegenwärtig auf.
Sie ist eine von uns. Sie sieht eine Gesellschaft, die von außen wie von innen zerrissen wird.
Sie verfolgt, wie ihre Mitmenschen sich von der Angst beherrschen lassen und als Gefangene des Gewohnten das Notwendige vermeiden. Sie erkennt die Zerbrechlichkeit einer Welt, die sich selbst zugrunde richtet. Doch ihre warnende Stimme bleibt ungehört.
Das Stück
Der Krieg ist vorbei, Troja zerstört, Kassandra eine Gefangene. Sie weiß, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hat. Sie ergibt sich nicht. Geht bewusst in die Erinnerung. Und erlebt noch einmal, wie eine sicher geglaubte Welt in sich zusammenfällt, Gewissheiten sich auflösen, Geliebtes und Geliebte verschwinden oder sich gegen sie wenden. Sie hat es so kommen sehen. Keiner sollte ihr glauben. Sie
musste ja selbst erst lernen, sich zu glauben, hinzusehen, auch auf sich selbst. Dabei zeigt sich die Fähigkeit, zu sehen was ist, eben nicht als mythische Zauberkraft, sondern als bewusste Entscheidung, die Augen nicht zu verschließen.
Johanna Malchow verkörpert die Kassandra als eine Frau, die nicht die Zukunft vorhersagt, sondern uns mit unaufhörlichen Wahrheiten konfrontiert. In der Überwindung ihrer Ängste und im schonungslosen Blick auf ihr Leben deckt sie das Gefühl der Ohnmacht gegenüber ihrer Zeit auf – in einer Dringlichkeit, die sich auf das Publikum überträgt.
Die Inszenierung
Markus Weber hat Christa Wolfs Erzählung als Dialog für eine Schauspielerin adaptiert. Dem Geschehen auf der Bühne stellt er Filmszenen gegenüber, die von Notizen, Vorlesungen und Tagebucheinträgen Christa Wolfs inspiriert sind. Auf diese Weise tritt Kassandra in einen Dialog mit der Autorin. Diese Verbindung zwischen Bühne und Film erweitert die Perspektive und bringt Kassandras Geschichte in
unsere Zeit.
Die Auflösung von Kassandras Welt, aber auch die damit verbundene Befreiung, spiegeln sich im Bühnenbild wieder, wenn Kassandra nach und nach alles zerlegt, was sie gefangen hält, und ihren Spielraum erweitert. In der eigens für das Stück entwickelten Musik von Dominik Wirth hallt dieser Prozess der Dekonstruktion nach.
Aktualität und Relevanz
christa|kassandra ist mehr als nur eine Aufführung, es ist ein Aufruf zur Reflexion. Die Premiere des Stücks hat das Publikum mitgerissen und nachdenklich zurückgelassen. Die aktuelle Relevanz von Kassandras Kampf – gegen den Widerstand der eigenen Ängste, gegen den Unwillen der Gesellschaft, und gegen die Flut alternativer Wahrheiten – stellt uns selbst vor die Herausforderung, unseren Ängsten entgegenzutreten und mit schonungsloser Ehrlichkeit den Blick auf uns und unsere Welt zu richten.