
"Du bist gerade erst angekommen und hast noch keine Orientierung, aber das ist in Ordnung – wir auch nicht. Nimm dieses Fernglas. Wer ist diese große, nackte, langfingrige Gestalt, die sich dort oben auf dem Hügel kauert?
Auch andere schauen hin: jemand erbricht sich, jemand duckt sich weg und ist dennoch neugierig. Vielleicht siehst du – subjektiv – aus der Perspektive der Kreatur und machst damit alle Anwesenden zu jemandes „Anderen“.
Und vielleicht erinnert dich das Ganze an etwas Großes, aber Unfassbares, an die stachelige Textur des Lebendigseins: Fragen über Fragen, verschwommene Sehnsüchte, flüchtige Einblicke in ein namenloses Geheimnis – Fremdheit, akzeptiert, weil sie unmittelbar vor dir liegt.
Nour el Salehs Gemälde Spleen ist, ganz charakteristisch, eine Versammlung unbeantwortbarer Fragen: Wo? Wann? Wer? Auf welcher Ebene der Realität?
Der Ausstellungstitel Interface könnte auf die künstlich erzeugten Umgebungen von Videospielen anspielen.
All das verweist zugleich darauf, dass die Künstlerin selbst nur kurz vor uns angekommen ist. Sie beginnt fast immer mit dem Malen, ohne zu wissen, was sie malen wird – auf der Suche nach jener Schwelle, an der klar wird, dass etwas geschehen wird, ohne dass feststeht, was genau.
Und doch gibt es innerhalb all dessen einige Gewissheiten. el Saleh malt Körper in extremis, als würde das Fleisch innere Gefühlszustände signalisieren, als würden Emotionen Physiognomie neu formen und sich buchstäblich dicht an den Knochen niederlassen. Hände und Füße sind hier so ausdrucksstark und eindringlich wie Augen. Die Figuren fühlen tief, und manchmal können wir erahnen, was: das nachvollziehbare Verlangen nach Veränderung, vermischt mit der Angst vor ihren Folgen. Kleinere Figuren – vielleicht alternative Selbst – treten aus Hautportalen hervor (siehe Spoon-feed) oder erscheinen in den knochigen Fingern einer größeren Figur geborgen (sleepy lavender).
In der umkehrbaren Arbeit Fracture plane verwandelt sich ein Körper in eine Motte. In Flytrap fliegt ein mottenähnlicher Mensch traumartig über den Himmel – um zu fallen oder zu fliegen oder, wie der Titel andeutet, im bei der Suche nach Licht in die Falle zu geraten. Selbst das Wetter kann wie eine handelnde Figur wirken, ein abstrakter Hinweisgeber.
Ein Teil von el Salehs Kunst besteht darin, so vieles zurückzuhalten und zugleich die Betrachtenden heranzuwinken – am Rand einer Erzählung zu balancieren und doch zu bestätigen, dass das ganze Narrativ nie zu haben ist. Eine Ebene gilt ihrers libanesisches Aufwachsen, „Easter Eggs“, die in den Kompositionen versteckt sind und die nicht jeder kulturell dechiffrieren kann. Doch zugleich gibt es eindeutige Hinweise auf die universelle Fragmentierung der Betrachtung – ein umkehrbares Gemälde etwa lässt sich nie vollständig erfassen.
So werden die Betrachtenden kollektiv zu einer Gemeinschaft des bewussten Nichtwissens – ein Zustand, den Menschen ohne Glauben vielleicht als Preis des Lebendigseins bezeichnen würden. Kunst ist der Ort, an dem wir uns dem freiwillig stellen und darüber staunen – ein Kanal zwischen dem Hier und dem grenzenlos Unbekannten. Oder, wenn man so will: ein Interface."
Text von Martin Herbert
ÖFFNUNGSZEITEN
- Donnerstag-Samstag: 12-18 Uhr
Teilnehmende Künstler
Nour El Saleh