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ExRotaprint

Industrie als kubistische Skulptur

Wer die Gottschedstraße entlangkommt, kann nur staunen: Wie ein modernes Kunstwerk erscheint das Eckgebäude der ehemaligen Rotaprint-Fabrik.

Stockwerke wie Kisten, aufeinandergestapelt und ineinander verdreht: Welcher Architekt wagt Mitte der 1950er Jahre einen so extravaganten Entwurf für ein Industriegebäude? Der Gedanke an einen großen Star wie Le Corbusier liegt nicht fern. 

Doch die Rotaprint-Neubauten sind das Werk eines unbekannten Berliners: Der frischgebackene TH-Absolvent Klaus Kirsten erschafft einen der künstlerisch bedeutendsten Industriebauten der Nachkriegsmoderne. Umso erstaunlicher, da es sich um Kirstens ersten Auftrag handelt.

Heute gilt das Areal des ehemaligen Druckmaschinenherstellers Rotaprint als Vorbild für die Entwicklung des Berliner Industrie-Erbes. Dank eines speziellen Konzepts aus Erbbaurecht und Gemeinnützigkeit droht dem Rotaprint-Gelände keine Immobilienspekulation. Stattdessen fließen die Mieteinnahmen in die Sanierung und den Erhalt des Ensembles. 
Übrigens: Zu den Mietern von ExRotaprint gehören nicht nur Künstler und Gewerbetreibende, sondern auch die Kantine. Wenn Sie sich an der Architektur satt gesehen haben, stärken Sie sich doch gleich dort mit hausgemachten Gerichten aus saisonalen Produkten. 

Ein Berliner Welterfolg

Am Anfang steht eine geniale Erfindung: Im Jahr 1922 entwickelt die Deutsche Maschinen Vertriebsgesellschaft eine Offsetdruckmaschine für kleine Formate. Sie ermöglicht es, Dokumente in kleiner Auflage zu vervielfältigen – ganz nach Bedarf. 

Darauf haben Unternehmen und Verwaltungen in den 1920er Jahren nur gewartet. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Der Verkaufserfolg ist so enorm, dass sich die Deutsche Maschinen Vertriebsgesellschaft kurz darauf offiziell nach ihrer neuen Druckmaschine benennt: Rotaprint.

Obwohl im Zweiten Weltkrieg 80 Prozent der Fabrikanlagen am Gesundbrunnen zerstört werden, kann Rotaprint die Produktion schnell wieder aufnehmen. Im Jahr 1953 beschäftigt die Firma 500 Mitarbeiter und exportiert die Mehrzahl ihrer Maschinen ins Ausland. Rotaprint platzt bald aus allen Nähten und will expandieren. Platz gibt es in der Nachbarschaft genug, denn zahlreiche Wohnhäuser sind im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.

Ein junges Talent für ein modernes Unternehmen

Paul Glatz, der Direktor von Rotaprint, will mehr als eine Erweiterung seiner Fabrik. Sein Unternehmen soll ein junges, modernes Erscheinungsbild erhalten. Wie es der Zufall so will, hat einer seiner Bekannten einen Sohn, der Architekt ist. Glatz zögert nicht lange. Er gibt dem 26 Jahre alten Jahr alten Klaus Kirsten 1955 den Auftrag für die Neubauten der Rotaprint. Dass Kirsten sein Studium gerade erst beendet und noch kein Bauprojekt umgesetzt hat, stört Glatz nicht.

Und Glatz soll Recht behalten. Denn Kirsten stellt sein Talent früh unter Beweis. Er studiert nicht nur bei Hans Scharoun an der Technischen Hochschule Berlin, sondern geht mit einem italienischen Stipendium nach Rom und Mailand – sehr ungewöhnlich für einen Studenten in den 1950er Jahren.
Kirstens Diplomarbeit erscheint sogar in der Fachzeitschrift Bauwelt.

Rotaprint 2007 - heute ExRotaprint
© Landesdenkmalamt Berlin, Foto: Wolfgang Bittner

Die Glaskiste 

Klaus Kirsten verliert keine Zeit. Noch 1955 entstehen zur Gottschedstraße hin moderne Flachbauten und auch den Rotaprint-Altbauten aus dem Jahr 1905 verleiht der Architekt ein neues Design: Weißer Putz überdeckt die alten Klinker- und Backsteinfassaden, moderne Fenster bringen Helligkeit in die Fabrik.
Die auffälligste Neukonstruktion aber ist das neue Technische Büro. Kirsten lässt das komplette Obergeschoss mit Glas auskleiden, was dem gesamten Gebäude bald den Spitznamen Glaskiste einträgt. Sein markanter Rahmen ist im typischen Rotaprint-Rot gestrichen und farbige Mosaike schmücken das Treppenhaus. 
Die Glaskiste ist an Licht und Helligkeit orientiert, sogar die Büroräume teilt Kirsten mit Glastrennwänden. Hier oben sitzt ab sofort nicht nur die Firmenleitung, hier entwerfen auch die Ingenieure am Zeichenbrett neue Druckmaschinen.

Rotaprints außergewöhnliche Neubauten

Der Turm an der Ecke Gottsched- und Bornemannstraße benötigt keinen Hinweis – er ist ein echter Hingucker. Mit ihm schließt Kirsten das neue Rotaprint-Areal aus Bürotrakt und Montagehalle ab, das hier 1957-1959 entsteht.
Und er spart nicht mit extrovertierten Besonderheiten

  • Schräg gegeneinander versetzte Betonkuben
  • Große, geschlossene Wandflächen
  • Asymmetrisch angeordnete Fenster in unterschiedlichen Größen

Der Eckturm wäre eigentlich noch auffälliger geworden, aber aus unbekannten Gründen bleibt Kirstens Entwurf unvollendet. Statt der geplanten sieben Stockwerke entstehen nur fünf und auch einen weißen Putz erhält der Eckturm nicht. So blicken die Betrachter bis heute auf den konstruktiven Sichtbeton. 

Eine Vorstellung, wie der Eckturm wohl eigentlich wirken würde, erlaubt der Blick auf Kirstens Kistenturm der Tischlerei und Lehrwerkstatt, die 1957/58 auf dem Rotaprint-Gelände entstehen. Der weithin sichtbare Hochbau hat seinen Spitznamen nicht umsonst, wirkt er doch wie ein Kunstwerk des Kubismus:

  • Vor- und zurückspringende Kuben
  • Nach Westen hin fast völlig verglast
  • Weißer Feinputz

Der sachliche Gegenentwurf Otto Blocks

Wie Kirsten ist Otto Block ein Berliner Architekt, der sich um den Industriebau verdient macht. Aber seine Entwürfe sind nicht extravagant, sondern streng sachlich. Ein herausragendes Beispiel dafür sind das Verwaltungsgebäude und die Montagehalle, die Block 1957/58 an der Wiesenstraße für Rotaprint plant:

  • Flächige Fassaden im sachlich-rationalen Stil
  • Optimale Raumausnutzung und Belichtung
  • Asymmetrische Gebäudeteilung durch ein turmartig überhöhtes Treppenhaus

Glanzzeit und Niedergang

Die späten 1950er und die 1960er Jahre sind die Glanzzeit der Rotaprint. Die Firma beschäftigt mittlerweile tausend Mitarbeiter und 1968 erhält Direktor Glatz eine Auszeichnung für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Doch in den 1970er Jahren ziehen graue Wolken auf, denn neue Techniken machen den Rotaprint-Druckmaschinen Konkurrenz. Mit Fotokopierern und Computerdruckern kann die alte Technik nicht mehr mithalten. Trotz aller Rettungsversuche geht Rotaprint 1989 in die Insolvenz.

Kirstens und Blocks wichtigste Bauten erhalten zwar Denkmalschutz, sind aber marode. Eine neue Nutzung ist lange nicht in Sicht. Erst im Jahr 2007 kommt es zu einer nachhaltigen Lösung. Mieter gründen die gemeinnützige ExRotaprint GmbH, die Kirstens Bauten an Gewerbetreibende, Kulturschaffende und soziale Einrichtungen vermietet.
Da ExRotaprint nicht profitorientiert ist, fließen die Überschüsse in die Sanierung und Erhaltung des Baudenkmals. Für dieses Konzept erhält ExRotaprint 2019 die Ferdinand-von-Quast-Medaille, den Berliner Denkmalschutzpreis.

Für Otto Blocks Bauten findet sich eine ähnliche Lösung. Verantwortlich ist hier die Künstlergenossenschaft Wiesenstraße eG. Wiesenstraße eG und ExRotaprint sind nicht die Besitzer des Geländes, sondern haben die Gebäude nach dem Erbbaurecht für 99 Jahre gepachtet. Eigentümer des Bodens sind die Stiftungen Trias und Edith Maryon, die sich dem Kampf gegen Immobilienspekulation verschrieben haben. Dieses Gesamtkonzept gilt heute als Vorzeigebeispiel für die Nutzung des industriellen Erbes Berlins.

Unsere Empfehlungen rund um ExRotaprint

ExRotaprint ist noch immer ein geschäftiger Gewerbeort, deshalb können Sie die Gebäude leider nicht von innen besichtigen. Allerdings lädt die Kantine im Haus zu einem Besuch ein. Und wenn sie spät am Tag vor Ort sein sollten, besuchen Sie eine der zahlreichen Bars der Umgebung!
Achten Sie auch auf Veranstaltungen. 2019/20 fand hier beispielsweise die 11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst statt [11.berlinbiennale.de]. ExRotaprint vermietet zudem die Glaskiste tageweise für Workshops, Seminare und Tagungen 

Praktische Tipps von visitBerlin

Zu ExRotaprint fahren Sie am besten mit der U-Bahn-Linie 9 bis zur Haltestelle Nauener Platz. Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card.