Je nach Auftragslage leben der mittellose Dichter Rudolfo und seine drei gewitzten Künstler-Freunde mal in äußerster Not, dann jedoch auch wieder im Überfluss und verfallen in Verschwendungslaune. Als eines Tages ihre Nachbarin Mimì in der Mansarden-Wohnung erscheint, verliebt sich Rodolfo auf den ersten Blick in die zerbrechliche junge Frau. Doch Mimì ist an Schwindsucht erkrankt. Rodolfo, der ihr nicht einmal ein warmes Zimmer bieten kann, ist mit der Situation überfordert.
La Bohème
In einer losen Szenenfolge schildern Puccini und seine Librettisten nicht nur die tragisch endende Liebesgeschichte, sondern porträtieren auch die Pariser Subkultur der Bohémiens mit ihrer ausgelassenen Feierlust und ihrem teils promisken Lebenswandel. Mit ihrem an der Alltagssprache orientierten Libretto und detailverliebten musikalischen Schilderungen des Ambientes schufen sie eine neue Form des veristischen Melodramas.
Puccinis eindringliche und klangmalerische Musik beschreibt die Welt der Bohémiens und ihre Umgebung dabei genauso realistisch und minutiös wie auch das Seelenleben der ihr entstammenden Figuren.
2:25 h | inklusive 1 Pause
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von Lindy Hume»There is no such thing as forgetting. The secret inscriptions are waiting to be revealed when the obscuring daylight shall have withdrawn.«Thomas de QuinceyIn den vielen Stunden, die wir mit unserer schon sehr alten Großmutter verbrachten, war ihre zunehmende Vergesslichkeit wie ein offenes Fenster zu ihrer Seele. Erinnerungen an ihre Jugend waren Offenbarungen für mich, Spuren zu ihrem Leben, bevor sie Enkel hatte, zur Kindheit meiner Mutter. Ihr selbst erschienen diese Erinnerungen mal wundervoll, mal unangenehm, manchmal beides zugleich.Während sie sich nicht immer an meinen Namen erinnern konnte, wusste sie noch jede Zeile der Lieder aus Kriegszeiten auswendig, die sie früher einmal gesungen hatte. Schon immer liebte sie das Tanzen, und wenn sie Walzer tanzte - was nun einer Art Dahinschlurfen mit geschlossenen Augen glich -, konnte sie noch immer richtig sexy wirken.Selbst wenn sie mit einer Krankenschwester über den Linoleum-Boden ihres Pflegeheims tanzte, geriet ihr der Walzer zu einer großartigen Liebesgeschichte, auf ewig verbunden mir der besten Zeit ihres Lebens, als sie und ihr flotter österreichischer Liebhaber die Tanzfläche eines teuren Restaurants oder Ballsaales eroberten. Während sich nun ihre mittlerweile steifen Körper zärtlich zu der Musik bewegten, versuchte ich mir diese alten Leute vorzustellen, wie sie sich in ihren Strickjacken und bequemen Pantoffeln wohl selbst Walzer tanzend sahen: jung, schön, das Leben genießend, den Duft von Kölnisch Wasser am Hals des Liebhabers. Seltsam eigentlich, dass wir selbst unsere Jugend so sorglos erleben, nur um uns dann mit solcher Intensität an sie zu erinnern.Das Noch-Einmal-Durchleben besonders kostbarer Augenblicke scheint eben diese Momente zu verzerren und zu verklären. Warum sind wir bei der Rückkehr an die Orte unserer Kindheit von dem Gefühl überrascht, alles sei geschrumpft und farbloser oder weniger Furcht einflößend als in unserer Erinnerung?Bierselige alte Männer tauschen beim Veteranen- oder Studententreffen unglaubliche Geschichten einer goldenen Ära legendärer Persönlichkeiten und aufregender, erlebnisreicher Abenteuer aus. »Das waren noch Zeiten ...«, schwärmen sie, und vergessen dabei, dass sie sich den größten Teil dieser Jahre den Rücken kaputt gearbeitet haben oder unter Armut und Kälte litten oder Langeweile und Schrecken ausstanden. Wenn wir nur die vorteilhaften Fotos aufheben, die schmerzvollen Liebesbriefe aber zerreißen und die großen Momente überbewerten - versuchen wir damit eine Auswahl zu treffen, woran wir uns später erinnern wollen? Ich denke, meine Großmutter tat genau das.(...)Auf Fotografien aus den 40er, 50er und 60er Jahren schienen Nanna und all ihre Freunde ständig damit beschäftigt zu sein, sich herauszuputzen, Parties zu feiern und sich in Szene zu setzen. Auf jedem der Fotos sind sie gerade auf einem Ball, in einem Nachtclub, auf einer Skihütte oder im Tennisverein zu sehen, unentwegt rauchend, trinkend, lachend und für die Kamera posierend- mit einem verrückten Hut, in einer Maske, am Klavier.Auf einem (mittlerweile verlorenen) Foto erinnere ich mich an eine Art geliehenes Marie-Antoinette-Ensemble -gepuderte Perücke und Ballkleid aus Satin -, geradezu langweilig im Vergleich mit Nannas dramatischer Modernität, dem roten Lippenstift und dem Nagellack, der unerlässlichen Zigarette und jenem glamourösen In-die-Kamera-Lächeln.Ihr braun gebrannter und gut aussehender Begleiter grinst frech mit einer karierten Krawatte und einem lustigen Hut. Dies waren die Bilder aus ihrem Leben, die zu erinnern sie sich entschieden hatte. Nanna war ein Entertainer.(...)Ihr ganzes Leben hindurch hatte Nanna einen Ehemann oder einen Freund; sie liebte die Gesellschaft von Männern. In der Nähe eines Mannes erblühte sie förmlich, charmant, flirtend und verführerisch.Es gibt einige vergilbte Fotos von den zwei Ehemännern, Joe und George, aber sie werden zahlenmäßig weit übertroffen von Bildern eines Mannes, den wir als Onkel Henry kannten.Dieser gut aussehende, weltmännisch gekleidete österreichische Flüchtling besaß eine Großreinigung, wo sie während des Krieges arbeitete, und er war später über 30 Jahre lang Nannas Liebhaber und Reisegefährte. Trotz seines Rufs als Schwerenöter war niemals die Rede davon, dass er seine Ehefrau verlassen hatte, die Nanna einigermaßen gut kannte. Nach Onkel Henrys Tod wagte sich meine nach Männern süchtige Großmutter wild entschlossen in die beige, zwielichtige Welt der Tanzvergnügungen und Gartenfeste alter Leute auf der Suche nach einem neuen Tanz-Partner.Mit über Siebzig gab sie ihre Stadtwohnung auf und zog zu ihrem neuen Freund, einem wunderbaren Kerl aus dem Arbeitermilieu namens Tom. Tom liebte Terrier, das Gärtnern und Pferdewetten. Nachdem meine Nanna ein Leben lang mein Vorbild in Stilfragen gewesen war, wurde sie nun die Königin eines scheußlichen Backsteinhauses am Stadtrand, das angefüllt war mit Möbel Schützern aus Plastik, Polyesterteppichen, Rüschen-Gardinen und einem braunen Vinyl- Sessel.Musettas Walzerlied, ihr Partygirl-Glamour und ihr extrovertiertes Wesen, ihre Wandlungsfähigkeit und ihr völliges Vertrauen auf Männer erinnern mich unweigerlich an meine Großmutter. Auch in meiner Gefühls-Reaktion auf die Musik spüre ich eine impressionistische Nähe zu La Boheme im Widerstreit zwischen der Unmöglichkeit des Vergessens und der Sehnsucht nach Erinnerung und Nostalgie. Das umfassende, zeitlose Charisma von La Boheme ist das umfassende zeitlose Charisma hochmütiger Jugend, unvollkommener Liebe, rücksichtslosen Verhaltens, dem Dazugehören zu einer schnellen, modischen Gang. La Boheme zelebriert - bewundert - jene berauschenden und eigentlich nur der Jugend gegebenen Illusionen des festen Vertrauens in die eigene Unsterblichkeit, spontaner Liebe oder künstlerischer Genialität: Wir, das abgestumpfte Publikum, erkennen diese Illusionen wehmütig als Rituale auf der Durchreise; wie der Verlust der Unschuld markiert das schmerzvolle Zerbrechen dieser großartigen verrückten Illusionen den unwiderruflichen Eintritt ins Erwachsenenleben.Können wir von uns sagen, dass wir wirklich gelebt haben, bevor wir uns ver- und wieder entliebt haben, an gebrochenem Herzen litten, dem Tod einmal ins Auge gesehen haben, einmal völlig abgebrannt waren und Angst hatten vor der Zukunft?Die Begegnung mit La Boheme erlaubt uns, noch einmal unschuldig zu sein, optimistisch, ohne Zynismus - zumindest in den ersten beiden Akten. Nach der Pause folgt die Kunst dem Leben, wenn die jugendlichen Illusionen der Charaktere eine nach der anderen zertrümmert werden. Kein Wunder, dass wir weinen.Genauso wie die Oper La Boheme das Jungsein zelebriert, scheint sie jene rückwärtsgewandte Qualität zu entfalten - wie aus der Erinnerung heraus und deshalb wie verbessert, redigiert, auf Technicolor gezogen, überlackiert durch die Perspektive eines (nicht länger jungen) Erinnernden. Erinnerung scheint dieses Werk zu bestimmen: euphorische Nostalgie in den ersten beiden Akten, melancholische Reue in den letzten beiden. Nostalgie und Reue: die Farben verbleichender Fotos, das Chiaroscuro der Seele. Die Bedeutung vergangener Momente im Rückblick ist allumfassend und brutal.»Reue«, sagte ein ehemaliger australischer Premierminister einmal, »ist ein nutzloses Gefühl«. Vielleicht – aber die Angst davor ist groß. Wir messen unser Scheitern wie unsere Erfolge am Ausmaß der Reue, die wir empfinden; die Lobeshymnen auf das Nichtbereuen von Edith Piaf oder Frank Sinatra bleiben uns im Halse stecken. Jahrzehnte vor ihnen verwendete Mimi jene sanfte Sprache (»Addio, senza rancor«), um ihre Furcht vor dem Bereuen auszudrücken, bevor sie dieselbe tief sitzende Angst später trotz ihrer körperlichen Schwäche verzweifelt durch Paris treibt, um sich mit ihrem Ex-Liebhaber auszusöhnen und bei ihm zu sterben.Es ist die tiefste, würdevollste Handlung in der Oper. Rodolfo und die anderen bleiben zurück, um ihren Weg nach Mimis Tod zu finden, um mit den ungelösten Gefühlen zu leben, die sich durch die Zeit verwandeln werden - durch jenen geheimnisvollen, unbewussten Vorgang der Seele hin zu Reue und Nostalgie.Diesen und weitere Artikel finden Sie im Programmbuch.
ERSTES BILD
Heiligabend in einer Pariser Mansarde
Dem Dichter Rodolfo und dem Maler Marcello will die Arbeit nicht von der Hand gehen. Es ist kalt in ihrer Mansarde. Rodolfo opfert großzügig sein neuestes Drama für ein kurzes Feuer im Ofen. Ihr Freund Colline, ein Philosoph, stößt zu ihnen. Gerade hat er vergebens versucht, am Heiligabend seine Bücher im Pfandleihhaus zu Geld zu machen. Kurz darauf folgt der Musiker Schaunard. Er bringt zur allgemeinen Überraschung Essen, Wein, Holz und Geld mit, das er durch einen seltsamen Auftrag verdient hat: Für einen spleenigen Engländer musste er einen Papagei zu Tode musizieren. Das Geld liegt noch auf dem Tisch, als Benoît, der Vermieter, unverhofft vorbeikommt, um die überfällige Miete zu kassieren. Die vier Künstler machen ihn betrunken und verstehen es, ihn unverrichteter Dinge wieder loszuwerden.
Sie beschließen, den Weihnachtsabend im Café Momus zu verbringen. Rodolfo bleibt zurück, um noch einen Zeitungsartikel zu Ende zu schreiben. Da klopft es: Mimì, eine Nachbarin, bittet um Feuer für ihre erloschene Kerze. Sie verliert ihren Schlüssel, den beide im Dunkeln suchen. Rodolfo sorgt dafür, dass sie ihn nicht zu schnell finden.
Sie kommen sich näher und verlieben sich ineinander. Als die Freunde von unten nach Rodolfo rufen, zieht das neue Paar mit ihnen ins Momus.
ZWEITES BILD
Café Momus
Ausgelassener Weihnachtstrubel im Quartier Latin. Straßenhändler bieten ihre Waren an, der Spielzeugverkäufer Parpignol kann sich vor dem Ansturm der Kinder kaum retten. Die vier Bohémiens bringen ihr Geld unter die Leute; Rodolfo kauft ein Häubchen für Mimì. Man trifft sich schließlich zum Essen im Momus, wohin es auch Musetta, Marcellos frühere Geliebte, mit ihrem neuen, reichen Verehrer, Alcindoro, zieht. Marcello ist eifersüchtig, Musetta provoziert ihn und schickt Alcindoro mit einem Auftrag davon, um wieder zu Marcello zurückzukehren. Die beiden Paare, Colline und Schaunard ziehen gutgelaunt von dannen. Alcindoro wird bei seiner Rückkehr die Rechnung für alle begleichen müssen.
DRITTES BILD
Februarmorgen am Stadtrand
Marcello arbeitet als »Kneipenmaler« in einem Cabaret am Stadtrand, wo auch Musetta als Sängerin auftritt. Mimì will mit ihm über Rodolfos unbegründete Eifersucht sprechen. Marcello rät ihr zur Trennung. Als Rodolfo hinzukommt, versteckt sie sich und hört Rodolfos wahre Beweggründe: Er fühlt sich nicht in der Lage, die schwerkranke Mimì zu versorgen. Mimì verlässt ihr Versteck. Rodolfo und sie wollen nun noch bis zum Ende des Winters zusammen bleiben. Nach einer heftigen Eifersuchtsszene verlässt Musetta Marcello.
VIERTES BILD
In der Mansarde — ein halbes Jahr später
Marcello und Rodolfo gelingt es nicht, ihrer Arbeit nachzugehen. Wenn sie es sich gegenseitig auch nicht eingestehen wollen, sind ihre Gedanken doch bei Musetta und Mimì, die sie seit langem nicht mehr gesehen haben. Colline und Schaunard bringen diesmal nur ein karges Abendessen mit. Die vier Freunde versuchen mit Humor das Beste aus der Situation zu machen.
Musetta bringt die todkranke Mimì zu ihnen, die Rodolfo noch einmal wiedersehen will. Musetta versetzt ihre Ohrringe, Colline seinen geliebten Mantel, um Medikamente und einen Arzt zu besorgen und der Sterbenden einen letzten Wunsch zu erfüllen. Allein zurückgeblieben erinnern sich Rodolfo und Mimì ihrer ersten Begegnung. Die Freunde kehren zurück. Mimì stirbt. Rodolfo wird es als Letzter gewahr.
Teilnehmende Künstler
Giacomo Puccini (Komponist/in)
Giuseppe Giacosa und Luigi Illica (Autor/in)