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Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas "Prozess"

Sein ganzes Leben hat Franz Kafka mit der Frage gerungen, was sein Jüdischsein für ihn bedeutet. Aufgewachsen in einer assimilierten Familie verband er die sporadischen Synagogenbesuche eher mit Zwang.  


Die religiösen Regeln, ihre Auslegungen und Erzählungen befremdeten ihn mindestens genauso, wie sie ihn faszinierten. Kaum verwunderlich, dass es vielmehr die jüdische Kultur, die Kunst, genauer gesagt: das Theater in jiddischer Sprache war, welches Kafka den ersten Anstoß gab, sich dem Judentum zu nähern.

Im Herbst 1911 besuchte Kafka regelmäßig die Aufführungen einer ostjüdischen Theatergruppe. Ihre tragikomische Erzählweise, die Vermischung von Gesang, Tanz, Drama und der selbst-verständliche Umgang mit dem Jiddischen beeinflusste nachweislich sein Schreiben.

Vor diesem Hintergrund inszeniert Opernregisseur Barrie Kosky Kafkas berühmtesten Roman "Der Prozess" und weitere Texte als Auseinandersetzung mit Kafkas Judentum auf Deutsch, Jiddisch, Hebräisch, jeweils mit deutschen Untertiteln, und – natürlich – mit viel Musik!


Für den schwerkranken Kafka selbst mündete diese stets auch schuld- und schambehaftete Auseinandersetzung erst durch die Begegnung mit Dora Diamant im letzten Jahr vor seinem Tod, wenn nicht in Erlösung, so doch zumindest in eine Art Trost.

Koskys künstlerisches Schaffen durchzieht ein fortwährendes Interesse, dem Publikum Zugang zu unbekannteren Bereichen jüdischer Kultur zu eröffnen. In diesem Sinne setzt der ehemalige Intendant der Komischen Oper Berlin nach seiner erfolgreichen Inszenierung der "Dreigroschenoper" seine Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble fort.

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Zusätzliche Informationen
No Escape! Was reizt den Musiktheater-Regisseur Barrie Kosky an dem Sprachkünstler Franz Kafka?KOSKY Kafka begleitet mich schon mein ganzes Leben. Mit 13 Jahren öffnete mir Die Verwandlung eine neue Welt. In meinen ersten Inszenierungen in Australien spielten Themen und Textfragmente aus Kafkas künstlerischem Universum eine Rolle. Meine große Liebe zum jiddischen Theater und Vaudeville habe ich überhaupt erst durch Kafkas Begeisterung dafür entdeckt! Seine lebenslange, höchst ambivalente Auseinandersetzung mit dem Judentum, die ganzen unauflösbaren Widersprüche, in die er als assimilierter Jude und deutsch schreibender Autor in Prag verwickelt war, sein obsessives Beharren auf Einsamkeit einerseits, sein tiefer Wunsch nach Zugehörigkeit andererseits, seine nervöse, fast zwanghafte Suche nach Wahrheit, seine Widerständigkeit, seine Fantasie, seine Paranoia … Kafka rührt bei mir an etwas ganz Fundamentales, gleichzeitig zutiefst Persönliches. Während meiner Zeit am Schauspielhaus in Wien entstand eine Kafka-Trilogie und als wir 2021 hier am Berliner Ensemble nach der Dreigroschenoper über eine neue Inszenierung sprachen, sah ich die Gelegenheit, mich erneut mit Kafka zu beschäftigen und mit diesem fantastischen Ensemble, das auch fabelhaft singen und tanzen kann, ein neues Musikheaterstück rund um Kafka und Kafkas Prozess zu erfinden. Mit welcher Musik? Die meisten Lieder stammen aus dem jiddischen Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Warschau, wo auch der Schau- spieler Jizchak Löwy herkam, den Kafka 1911 bei Aufführungen in Prag kennenlernte. Und im Gegensatz dazu: Bach. Ich denke, es gibt keine Musik, die weiter weg sein könnte von jiddischen Liedern als Bachs lutherisch-protestantische Kirchen- und Hausmusik aus dem deutschen Barock. Bei uns hören wir sie in einer von Adam Benzwi arrangierten verswingten Version. Und für Kafkas letzte Monate mit seiner Lebensgefährtin Dora Diamant haben wir uns für Robert Schumanns Liedzyklus Dichterliebe entschieden mit Texten von Heinrich Heine, die Anna Rozenfeld ins Jiddische übersetzt hat. Die gleiche Bedeutung, die Heine als assimilierter Jude für die deutsche Kultur des 19. Jahrhunderts hatte erreichte Kafka für das 20. Jahrhundert. Ein Abend über Kafkas Leben? Ich kann seine Kunst, alles, was er geschrieben hat, nicht mehr so einfach trennen von dem, was ich über sein Leben weiß und umgekehrt. Es ist kein biografischer Abend, aber Schreiben war für Kafka keine Selbstverständlichkeit, sondern eine zutiefst persönliche Angelegenheit, ein Kampf mit sich selbst, ein Gebet, wie er es einmal nannte; eine Lebensversicherung, ein Sich-des-Lebens-versichern, Schutz vor und Bewältigung der ihn bedrängenden Welt, Fluch und Segen, Folter und Rausch, Begrenzung und Entgrenzung, einfach alles. Die unendlich scheinende Deutbarkeit von Kafkas Texten erinnert dabei in Form und Stil an talmudische Schriften, die derart viele, zum Teil auch widersprüchliche Bezüge in sich tragen, dass sie eine fast unendliche Anzahl an Kommentaren benötigen oder herausfordern. In der Forschung liest sich die Entdeckung von Kafka als jüdischer Autor enorm kontrovers. Das kann auch nicht anders sein, denn diese Widersprüchlichkeit Kafkas ist ja genau der Punkt und in seinen Texten fest verankert. Kafka war ein assimilierter jüdischer Schriftsteller mit unübersehbaren Einflüssen jüdischer Kultur, einem tiefreligiösen Verlangen nach Erlösung gepaart mit einer Portion jüdischem Selbsthass und Witz. Walter Benjamin schrieb dazu: "Ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne."Vielleicht. Die Komik hat meiner Meinung nach mit Kafkas Begegnung mit dem jiddischen Theater und seiner volkstümlichen, burlesk-komödiantischen Vaudeville-Ästhetik zu tun, was sich bei Kafkas Texten in den grotesk-absurden Situationen, Metaphern und Gesten wiederfindet. Zu der jüdischen Theologie mit ihrem unergründlichen, grausam strafenden Gott, ihren 613 – nicht nur 10! – Geboten und Verboten, die den Alltag bis ins Kleinste und Intimste regeln, hatte Kafka ein äußerst zwiespältiges Verhältnis. Die Parabeln wiederum, die zum Beispiel im Talmud vorkommen, haben ihn fasziniert. Mich hat interessiert, wie sich Kafkas ambivalente Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition in seinen Texten spiegelt – und sein Kampf dagegen. Er hat das alles gehasst. Er hat es gesucht. Er hat es zelebriert. Die Abwehr von Schuldgefühlen war dabei ein Dauerthema – gegenüber der Familie, den Lebensgefährtinnen, der jüdischen Tradition, sich selbst, seiner Kunst ... Einige von Kafkas engen Freunden engagierten sich in der zionistischen Bewegung.Der Zionismus spielte für Kafka eine ambivalente Rolle. Er interessierte sich für die kulturellen Aspekte des Judentums, nicht für die politischen. Aber am Ende seines Lebenslernte er intensiv Hebräisch und träumte davon, zusammen mit Dora Diamant auszuwandern, ein Restaurant zu eröffnen, in dem sie kochen und er kellnern wollte. Hebräisch war lange hauptsächlich die in der Synagoge verwendete Sprache der Bibel und der zahlreichen – 613! – Gesetze in der Tora. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde es als gesprochene Sprache wiederbelebt. Im Alltag haben sich vor allem zwei jüdische Sprachen entwickelt. In Mittel- und Osteuropa war es Jiddisch, was im 19. Jahrhundert bis zum zweiten Weltkrieg zu einer wahren Explosion jiddischer Literatur, Dramatik, Musik, Filme und so weiter, führte. Jiddisch war und ist immer mehr als eine Sprache, es ist voller Kultur, jedoch unter Juden und Jüdinnen auch sehr unterschiedlich bewertet. Meine assimilierte bildungsbürgerliche Großmutter aus Budapest zum Beispiel hat Jiddisch gehasst. "Du musst Deutsch lernen", hat sie immer zu mir gesagt, "das ist die Sprache der Kultur." Jiddisch und damit die volkstümliche jiddische Kultur und Lebensweise wurden abgewertet aus Angst, sie werfe einen zurück in das von Armut geprägte, dreckige Schtetl Osteuropas. Meine polnische Großmutter hingegen hat es geliebt. Für sie war die jiddische Kultur die Seele des Judentums. Und mir war es in meinen Arbeiten immer wichtig, den Reichtum, die Widersprüchlichkeit, die Traditionslinien dieser Kultur zu zeigen. Kafka entdeckte diese jiddische Kultur im Herbst 1911 mitten in Prag.Im Café Savoy, ja, bei den Aufführungen der ostjüdischen Wandertheatergruppe von Jizchak Löwy. Kafka hat über zwei Jahre hinweg sehr viel jiddisches Theater gesehen und war mit Löwy und dem Ensemble eng befreundet. In einfachen Bühnenbildelementen, billigen Kostümen wurde gespielt, gesungen, getanzt, manchmal jiddische Operetten, manchmal biblische Stücke, Komödien mit jiddischen Liedern. Für Kafka war diese Erfahrung lebensverändernd. Er sah in der Künstlichkeit ihres Spiels eine Art Wahrheit, etwas was sich echter und lebendiger anfühlte als was er sonst von jüdischen Traditionen kannte, etwas, was schwer zu fassen war, etwas Altes, beinahe Mystisches. Evelyn Thornton Beck hat in ihrem Buch Kafka and the Yiddish Theater akribisch nachgewiesen, welche Inszenierungen Kafka gesehen hatte und wie sie sein Schreiben beeinflussten, was schließlich 1912 mit der Erzählung Das Urteil zu dem unverwechselbaren Kafka-Stil und Kafkas literarischem Durchbruch führte. Dazu gibt es auch viele andere Theorien, keine Frage. Aber ich fand es interessant, dem nachzugehen. In der jiddischen Kultur fand Kafka eine Form der Emotionalität, Freiheit und Komik, die er von der deutschen Hochkultur nicht kannte. Diese ganze Tradition des jiddischen Vaudevilles setzt sich später fort in den Hollywood-Komödien und der Unterhaltungsfilmindustrie der 30er und 40er Jahre. Viele der Filmemacher und Studiogründer Hollywoods waren jüdische Künstler mit Vaudeville-Bezug. Aber das ist eine andere Geschichte … Auch Dora Diamant sprach Jiddisch. Wer war diese Frau?Sie war die Tochter einer orthodoxen jüdischen Familie aus Polen, die sich gegen den Widerstand ihres Vaters nicht nur für Theater interessierte und später Schauspielerin wurde, sondern sich als junge Frau von ihrer Familie trennte und als Kindergärtnerin 1920 nach Berlin zog. Die Biografie Dora Diamants ist eine eigene, atemberaubende Geschichte. Sie war weit mehr als nur Kafkas glücklichste Liebe in seinem letzten Lebensjahr. Für Kafka, den sie im Juli 1923 im Ostseebad Müritz kennenlernte, war sie die Komplizin, mit der er glaubte, seinen lebenslangen Konflikt mit dem Judentum und der Assimilation endlich auflösen zu können. Dora hatte denselben Zwiespalt durchlebt und geschafft, was er alleine nie konnte: die Trennung von der Familie, dem Vater, der Wegzug nach Berlin, ein selbstbestimmtes Leben, das eine lebendige jüdische Tradition mit westlicher Kultur und säkularen Freiheiten verband, ohne den Preis von Abstraktion und sozialer Kälte zu bezahlen. Sie verkörperte eine Art Koexistenz beider Lebensweisen, die auch Kafka sich auf einmal vorstellen konnte. Nach dem Sommer zog er zu ihr nach Berlin. Ein halbes Jahr später begleitete sie ihn im Frühling nach Österreich in das Sanatorium, in dem er kurze Zeit später, am 3. Juni 1924, an Lungentuberkulose starb. Also keine Erlösung?Es gibt keine Erlösung in Kafkas Welt – weder in der gelebten noch in der imaginierten. Keinen Ausweg aus den unterschiedlichen Käfigen und Zwängen, die das Leben für einen bereithält, keine Flucht vor dem Unergründlichen, keine Antwort auf die Frage nach Sinn, Schuld und Sühne. Vielleicht eine Ahnung davon in der Kunst, in der Literatur, der Musik. Und in der liebenden oder freundlichen Verbundenheit zwischen Menschen. Doch bleibt es immer eine Kunst zum Tode, ein Leben zum Tode hin: Am Tag seines Todes, geschwächt und abgemagert, er konnte nicht mehr sprechen, kaum trinken, korrigierte Kafka noch die Druckfahnen seiner Erzählung Der Hungerkünstler, die Geschichte eines Künstlers, der den Höhepunkt seiner Kunst im physischen Verschwinden erreicht, unbemerkt, ohne Publikum. Völlig sinnlos. Oder der Leser in der Erzählung Die Strafkolonie, der einen Text buchstäblich durchlebt durch eine Schreibmaschine, die ihm mit spitzen Nadeln jedes Wort in die Haut, auf den Körper tätowiert, und am Ende, bei dem finalen Stich in die Stirn, also im Tod, die kabbalistische Erleuchtung verspricht – dann aber leider auseinanderfällt und doch nur tötet, ohne Erlösung. Oder der Tod von Josef K. im Prozess, ein Mord, unbegründet, ausgeführt von zwei Schauspielern, deren Profession es ist, ein Schauspiel zu veranstalten. Ein Spiel zum Tode. Doch vielleicht ist auch das nicht das erlösende Ende, da ein Spiel auch wieder von vorne losgehen kann. There is no escape – also machen wir das Beste draus. Das Gespräch führte Sibylle Baschung
Teilnehmende Künstler
Nach Franz Kafka (Autor/in)
Kathrin Wehlisch (Josef K.)
Paul Herwig (Der Aufseher u.a.)
Constanze Becker (Frau Grubach, Leni u.a.)
Gabriel Schneider (Frl. Büstner, Advokat Huld u.a.)
Joyce Sanhá (Frau des Gerichtsdieners, Kaplan u.a.)
Alexander Simon (Onkel Karl u.a.)
Martin Rentzsch (Kaufmann Block u.a.)
Alma Sadé (Dora Diamant)
Stephan Genze (Schlagzeug)
Otwin Zipp (Kontrabass/Posaune/Tuba)
Adam Benzwi (Klavier)
James Scannell (Holzbläser)
Ralf Templin (Gitarren)
Gabriel Rosenbach (Trompete)
Daniela Braun (Geige)
Barrie Kosky
Adam Benzwi
Katrin Lea Tag
Mariana Souza
Eric Dunlap
Ulrich Eh
Sibylle Baschung
Daniel Busch
Anna Rozenfeld
Amir Zloter
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