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»In Deutschland heißt es, ich sei in relativer Armut aufgewachsen. Abgetragene Victory-Schuhe von Deichmann statt Nikes, aber hey, immerhin Schuhe. Zur Schule laufen, weil die Familie noch nie ein Auto besessen hat, aber hey, immerhin Schulbildung und das sogar auf einem Gymnasium – der Ort, der Kindern in Armut besonders häufig verwehrt bleibt.
Die Klospülung erst nach dem dritten oder vierten Pinkeln betätigen, um Wasserkosten einzusparen, aber hey, immerhin eine Wohnung und das auch noch in einer idyllischen Kleinstadt an der Schweizer Grenze, die irgendwann 2007 sogar mal Blumenstadt Europas wurde. Hineingeboren in eine Familie, die noch ärmer aufgewachsen ist als ich, die weder Schuhe noch Klospülungen hatte, dafür aber viermal so lange Schulwege, habe ich vor allem eines gelernt: Beschwer dich nicht, dir geht’s relativ gut.«
Nach ihrem ersten Kuss hat sie erst einmal geweint, denn Miriam Davoudvandi wusste, dieser Typ muss irgendwann ihr Elternhaus von innen sehen: die abgetragenen Schuhe, die vollgestellte Kammer, das zerschlissene Bad, in dem nur nach jedem vierten Toilettengang die Spülung bedient wurde, um Geld zu sparen. Dabei sind Miriam Davoudvandis Eltern noch ärmer aufgewachsen als sie. Und so lernte sie wie so viele in Deutschland: Beschwer dich nicht, dir geht’s doch relativ gut.
Inzwischen hat sie es geschafft, ist sozial aufgestiegen. Ihr Fazit: Geld macht sehr glücklich. Aber zu welchem Preis?
So entwaffnend wie berührend erzählt Miriam Davoudvandi, was es bedeutet, in Deutschland arm zu sein. Dabei blickt sie nicht nur auf die offensichtlichen Schauplätze von Armut, sondern auch auf Aspekte wie Dating und Liebe. Und zeigt, warum sogar Trauern hierzulande nur etwas für Reiche ist. Denn um Armut zu bemessen, gibt es zwar unzählige mathematische Ansätze, jedoch helfen sie nicht zu verstehen, wie Armut sich anfühlt und was sie langfristig mit einem macht. Armut tut weh, aber diese Geschichten möchte niemand hören. Dabei ist Armut etwas, was sich – theoretisch – leicht beseitigen ließe.
Miriam Davoudvandi ist 1992 in Bukarest als Tochter einer Rumänin und eines Iraners auf der Flucht geboren und wuchs in Süddeutschland auf. Sie ist freie Journalistin, Moderatorin und Autorin, wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie ist Host des WDR-Podcast „Danke, gut“, in dem sie mit Menschen aus der Öffentlichkeit über psychische Gesundheit spricht. Ihre Texte über Politik, Psyche und Popkultur erscheinen unter anderem im SPIEGEL und der taz. Außerdem hat sie Texte für's Theater („It’s Britney, Bitch!“ im Berliner Ensemble) verfasst. Zuletzt erschien ihr Beitrag in der Bestseller Anthologie »Unlearn Patriarchy II«.
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