
Andreas Scholl, Direktor der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin
Mein Lieblingsstück aus den Sammlungen
Die „Stele Giustiniani“ im Alten Museum
Mein persönliches Lieblingsstück ist das Grabrelief eines Mädchens: Um 460 v.Chr. wurde die 143 cm hohe Stele angefertigt, die Sie heute in Raum 7 des Alten Museums betrachten können, der dem Thema "Leben und Tod im klassischen Athen - Alltag einer antiken Metropole" gewidmet ist.
Griechische Reliefkunst höchster Qualität
Seit ich als Schüler die berühmten Friesplatten des Parthenon im Britischen Museum zum ersten Mal sah, hat mich die bildhauerische Qualität der griechischen Reliefkunst fasziniert. Gerade in der Berliner Antikensammlung lässt sich deren Entwicklung vom 6. bis zum 1. Jh. v. Chr. an herausragenden Beispielen nachvollziehen. Zu den zweifellos schönsten Exemplaren gehört die nach ihrem Vorbesitzer benannte Stele Giustiniani.

Inbegriff klassischer Schönheit
Auf dieser schlanken Grabstele ist in einem hohen Feld mit schmaler Rahmung ein Mädchen mit gesenktem Kopf dargestellt. Ihr Gewand aus schwerem Wollstoff wurde ursprünglich auf der rechten Schulter mit einer in Bronze eingesetzten Spange zusammengehalten. Die Ohren zierten ebenfalls aus Bronze gefertigte und wohl vergoldete Anhänger. In der Linken hält das viel zu früh verstorbene Mädchen ein rundes Behältnis, dessen Deckel vor ihr am Boden steht. Mit der Rechten entnimmt sie ihm ein ursprünglich gemaltes Schmuckstück oder eine Binde, vielleicht aber auch Weihrauchkörner zum Opfer. Als bekrönender Abschluss des Grabmals dient ein prachtvoll sich entfaltender Palmettenfächer, dessen Kelch hier erstmals auf einer griechischen Grabstele aus Blättern des Akanthus gebildet ist. Solche später häufigen vegetabilen Zierelemente griechischer Grabmäler sind kein gedankenlos-dekorativer Schmuck, sondern symbolisieren das sich in der Natur immer wieder erneuernde Leben.
Elegische Stimmung stiller Trauer
Über dem Bild des Mädchens liegt eine elegische Stimmung stiller Trauer als überdeutlicher Hinweis auf ihren allzu frühen Tod. Nichts erschien den alten Griechen schrecklicher als ein Lebensende vor der Hochzeit, und gerade unverheiratet Verstorbenen errichtete man häufig besonders teure und künstlerisch ambitionierte Grabmäler. Der Typus des Reliefs und der plastische Stil, die stoffliche, weiche und schwere Wiedergabe des Gewandes sowie der üppige vegetabile Wuchs des Ornaments deuten darauf hin, dass dieses beeindruckende Grabmal eines griechischen Mädchens um 460 v. Chr. von einem Bildhauer der Kykladeninsel Paros geschaffen wurde.
Prof. Dr. Andreas Scholl