
Was heißt es, auf der Flucht zu sein? Was bedeutet es, Vertrautes und Liebgewonnenes zurücklassen zu müssen und in ein unbekanntes Land aufzubrechen? Seitdem es Menschen gibt, gibt es das Fliehen, den erzwungenen Aufbruch in neue Welten. Als persönliches oder kollektives Erlebnis - und immer existenziell. Berlin ist eine Stadt, welche seit Jahrhunderten so viele Formen der Flucht gesehen hat - und aktuell durchlebt. Dementsprechend gibt es in Berlin ebenso historische Orte als auch eine Vielzahl von Angeboten, sich dem Thema "Flucht" aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Und vielleicht festzustellen, dass es hier immer um gleiche menschliche emotionale Grunderfahrungen geht.
Tipp 1: Sprecht. Über das Verlorene und Gefundene

Vielleicht sagt es euch noch etwas: Die "Balkankriege" in den 1990er-Jahren, die für Tausende Menschen einen tiefen Einschnitt bedeuteten: Sie waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und in Deutschland einen Neuanfang zu wagen – begleitet von Verlust, Unsicherheit und zahlreichen Hürden.
Am Veranstaltungsabend "Sprechen. Über das Verlorene und Gefundene" stehen genau diese Menschen aus Bosnien-Herzegowina im Mittelpunkt: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten persönlich, wie sie das Ankommen in Deutschland erlebt haben, welche Sorgen und Hoffnungen sie begleiteten und wie es sich später anfühlte, nach Jahren zum ersten Mal wieder in die alte Heimat zurückzukehren.
Ausgangspunkt des Abends ist das Zeitzeugenprojekt „Von Bosnien nach Berlin“. Gezeigt wird der Dokumentarfilm Distilled, in dem Asmir nach fast drei Jahrzehnten seine Heimatstadt in Bosnien-Herzegowina besucht.
Erzählcafés laden euch dazu ein, den Erinnerungen der Geflüchteten zu lauschen – und gleichzeitig über eure eigenen Erinnerungen und Gedanken an die 1990er-Jahre zu sprechen.
Wann: Dienstag, 25. November 2025, 18 – 20 Uhr
Wo: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, Kreuzberg
Tipp 2: Lauscht Florian Illies "Wenn die Sonne untergeht"

Es gibt kaum jemanden, dem man so gern zuhört, dessen literarische Streifzüge durch die Geschichte mehr faszinieren: Wenn Florian Illies am 21. Oktober die schmerz- und konfliktreiche Fluchtgeschichte der Familie von Thomas Mann liest, lasst euch in den Bann der Geschehnisse im glühend heißen Sommer 1933 ziehen.
Im Juni landen Thomas und Katia Mann mit ihren sechs Kindern nach einer abenteuerlichen Flucht aus Deutschland im kleinen Hafenort Sanary an der französischen Mittelmeerküste. Und wissen nicht mehr weiter. In drei sehr heißen unruhigen Sommermonaten kommt es in der Familie zu einer unerträglichen Zerreißprobe, die euch einen tiefen persönlichen Einblick in die Situation geflüchteter Familien gibt. Florian Illies stellt euch hier sein neues Buch "Wenn die Sonne untergeht. Familie Mann in Sanary" vor.
Wann: Dienstag, 21. Oktober 2025, 19:30 Uhr
Wo: Renaissance-Theater Berlin, Knesebeckstraße 100, Charlottenburg
Tipp 3: Nähert euch spielerisch dem Thema - in den Berliner Unterwelten

Berlin zur Zeit des geteilten Deutschlands: Ein Freund von euch, der Kunsthändler Kath, will einen Fluchtversuch aus Ostberlin Richtung Westen wagen, durch einen unterirdischen Tunnel, den es anhand verschlüsselter Hinweise noch zu finden gilt. Doch auch die Stasi hat Hinweise zum Fluchttunnel erhalten und sucht ihn ebenfalls mit Hochdruck. Unter hohen persönlichen Risiken entscheidet ihr euch, euren Freund Kath zu unterstützen und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt...
Meldet euch für diese digitale Schnitzeljagd Flucht & Spionage in den Berliner Unterwelten an und taucht gemeinsam ein in ein dramatisches Fluchtprojekt. Das Erlebnis ist für alle Schüler der 8.-13. Klasse geeignet. Es wird abgerundet durch eine Führung in den Berliner Unterwelten zu Tunnel 57, dem letzten authentischen Fluchttunnel, wo ihr zusätzlich noch vieles über die Gefahren bei der Mauerflucht erfahrt! Was ihr mitbringen müsst: euer aufgeladenes Smartphone.
Wann: Mittwoch 16 Uhr und 16:30 Uhr, die Rätseltour dauert etwa 2 Stunden, die Tunnelführung 1 Stunde
Wo: Treffpunkt und Start im Weinbergpark an der Statue "Mutter mit Kind" am Rosenthaler Platz, Mitte
Tipp 4: Besucht den Erinnerungsort für Günter Litfin

Günter Litfin ist 24 Jahre alt und in Ostberlin aufgewachsen. Bis 1961 arbeitet er zufrieden in West-Berlin - bis sich am 13. August 1961 plötzlich die Grenze schließt und die Mauer errichtet wird. Plötzlich von seinem Arbeitsplatz abgeschnitten zu sein frustriert Günter ernsthaft, schon länger wächst seine Wut auf das politische System der DDR. Und so steigt er kurzentschlossen am 24. August am "Kieler Eck" ins Wasser der Spree, um durch den Humboldthafen zum westlichen Ufer zu schwimmen. Sofort funktioniert das tödliche Grenzkontrollsystem der DDR: Nach wenigen Warnschüssen, auf die der schwimmende Günter kaum sichtbar reagieren kann, feuern Ost-Berliner Polizisten auf den jungen Flüchtenden und verletzen ihn tödlich.
Günter hat einen jüngeren Bruder, Jürgen, der - zutiefst erschüttert - den Fluchtversuch seines Bruders und sein sinnloses Sterben nie vergessen wird. 2003 endlich gelingt es ihm, den Wachturm an der Kieler Straße zu einem Gedenkort durchzusetzen, mit Fotos, Dokumenten und den interessanten damaligen Pressebeiträgen in Ost und West. Wenn ihr hier oben im Wachturm steht, spürt ihr sowohl das Schicksal der Flüchtenden als auch die Perspektive der Grenzpolizisten, die von hier aus Schießbefehl hatten.
Wann: 3. Mai bis 5. Oktober 2025, Samstag & Sonntag, 11 – 17 Uhr
Wo: Gedenkort Günter Litfin, Kieler Straße 2, Mitte
Tipp 5: Lernt noch mehr persönliche Schicksale kennen

Günter Litfin ist einer unter vielen gewesen, die auf der Flucht gewaltsam ihr Leben verloren. Wenn ihr bereit seid weiteren Einzelschicksalen zu begegnen, dann bucht eines der etwa dreistündigen Seminare, die an der Gedenkstätte Berliner Mauer - direkt am authentischen Ort an der Bernauer Straße - angeboten werden. Eine dramatisch-intensive Spurensuche, die erst für Teilnehmende ab 16 Jahren empfohlen wird: Zuerst begebt ihr euch mit Kameras ins Außengelände und dokumentiert den jeweiligen Todesort der verschiedenen Menschen, die hier auf der Flucht umkamen. Anschließend erarbeitet ihr auf Grundlage von Quellen die einzelnen Biografien. So lernt ihr die Todesopfer regelrecht kennen, es gibt wohl kein intensiveres "Näherkommen". Ihr seid auch dazu eingeladen, vor Beginn des Seminares zunächst an einer Gedenkandacht in der Kapelle der Versöhnung teilzunehmen.
Wann: bitte Buchungsanfrage mit Wunschtermin absenden
Wo: Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Straße 111, Mitte
Tipp 6: Spürt Flucht und Entwurzelung in einem ehemaligen Berliner Notaufnahmelager

Könnt ihr euch vorstellen, dass zur Zeit der deutschen Teilung und des Kalten Krieges etwa vier Millionen Menschen nach Westberlin kamen? Die einen begaben sich auf die lebensgefährliche Flucht, die anderen blieben auf einer genehmigten Besuchsreise einfach "drüben", wieder andere stellten über Jahre hinweg hartnäckig Ausreiseanträge und konnten schließlich - nach vielen Belastungen und Schikanen - übersiedeln. Wie wurde die Bundesregierung auf westlicher Seite Herr der Situation, wie konnte sie auffangen, versorgen, dokumentieren, verteilen?
In Berlin hat sich mit dem Notaufnahmelager Marienfelde ein spannender Ort erhalten, der tatsächlich 1,35 Millionen Geflüchtete und Übergesiedelte von Osteuropa und Ostberlin nach Westberlin beherbergte und versorgte. Aber Marienfelde bot nur begrenzt echte Sicherheit: Die Staatssicherheit der DDR bekämpfte das Notaufnahmelager als „Feindobjekt“ und schleuste erfolgreich Inoffizielle Mitarbeiter (IM) ein.
Lasst euch am authentischen Ort des Geschehens auf die starke Bedeutung dieser Einrichtung für so viele geflüchtete Menschen ein, spürt anhand der originalen Möbel, Fotos und Dokumentationen die damalige Atmosphäre und erkennt den starken Bezug zur Gegenwart: Der Gedenkort liegt nämlich in direkter Nachbarschaft zu einem heutigen Übergangswohnheim für Geflüchtete. Hier leben aktuell rund 700 Menschen aus mehr als zehn Ländern, die aufgrund von Gewalt, Verfolgung, Krieg und Armut ihre Heimat verlassen haben.
Wann: Dienstag bis Freitag 9 – 17 Uhr, Samstag & Sonntag 11.30 – 17 Uhr
Wo: Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Marienfelder Allee 66/80, Tempelhof-Schöneberg
Tipp 7: Besucht mit euren Kindern einen Workshop

Bleibt im Notaufnahmelager Marienfelde: Unter den Millionen Menschen, die dort eine erste Unterkunft fanden, befanden sich - ebenso wie heute im benachbarten Übergangswohnheim für Geflüchtete - zahlreiche Kinder. Wie erlebten sie es auf der Flucht zu sein? Wie haben sie die Entscheidung ihrer Eltern hingenommen, Vertrautes zu verlassen, was bedeutete das Lagerleben für sie? Die geflüchteten Familien mit ihren Kindern, die heute auf dem Gelände leben, erleben ja die gleiche Situation.
In dem angebotenen Workshop Mit Dabei - Kinder auf der Flucht werden eure Kinder Feingefühl für die Anderen entwickeln, ihre Unsicherheiten und Probleme verstehen lernen. Neben Einblicken in die persönlichen Fluchtgeschichten werden ihnen kleine spielerische Aufgaben gestellt, wobei sie begreifen, wie wichtig in Momenten der Ungewissheit Dinge wie Zuwendung, Geborgenheit und Vertrauen sind. Der 2,5-stündige Workshop ist an Kinder zwischen 8 und 12 Jahren gerichtet.
Wann: bitte Buchungsanfrage mit Wunschtermin absenden
Wo: Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Marienfelder Allee 66/80, Tempelhof-Schöneberg
Tipp 8: Schaut das Theaterstück "Elektrizität und Himmelsfische"

Hoch aktuell und besonders für Jugendliche ein spannendes wie einfühlsames Erlebnis: Das für den Jugendliteraturpreis 2025 nominierte Buch "Elektrizität und Himmelsfische" wird als szenische Lesung in Berlin auf die Bühne gebracht. Marzia, 14, beschreibt die Flucht ihrer Familie aus der Ukraine. Gerade als im Februar das sehnsüchtig erwartete Stockbett für die Kinder eintrifft, packt die Familie Hals über Kopf alles zusammen. Im Auto geht es zu fünft in der Februarkälte Richtung Westen. Eingeklemmt zwischen Koffern und Taschen schreibt Marzia dabei ihre Erlebnisse auf Papierschnitzel der Anleitung zum Aufbau des Stockbettes - dann verlieren sich plötzlich ihre Spuren. Ein Schriftsteller bringt ihre Geschichte an die Öffentlichkeit. Ein eindrucksvolles, auf den authentischen Erlebnissen einer fünfzehnjährigen Ukrainerin beruhendes Bühnenstück, das mit unerwarteten humoristischen Einlagen überrascht.
Wann: Dienstag, 23. September & Mittwoch, 24. September, 11:30 Uhr
Wo: Theater an der Parkaue, Parkaue 29, Lichtenberg
Extra Tipp: Falls ihr an den angebotenen Tagen nicht dabei sein könnt: Das Theater an der Parkaue hält für euch auch ein beeindruckendes Repertoire-Stück zum Thema Flucht bereit. In "Das Kind träumt" geht es vor allem um die dringende Suche nach Empathie und Menschlichkeit von Menschen auf der Flucht. Das Stück, welches mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2023 in der Kategorie Inszenierung Theater für junges Publikum ausgezeichnet wurde, ist bis Ende des Jahres leider ausverkauft, aber ihr könnt es euch gleich für Januar vormerken.
Tipp 9: Lernt einen wirklich Mutigen kennen - Otto Weidt

Gehen wir wieder zurück in der Geschichte Berlins, stoßen wir auf Otto Weidt:

Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus, Tausende Jüdinnen und Juden suchen Zuflucht vor der Verfolgung. In der Rosenthaler Straße hat der Kleinfabrikant Weidt eine Werkstatt, in der Besen und Bürsten hergestellt werden, auch für die Wehrmacht. Weidt, selbst erblindet, beschäftigt blinde oder gehörlose Jüdinnen und Juden - und versucht alles, um sie vor Verfolgung und Deportation zu schützen. Er versteckt Menschen, stellt falsche Pässe aus, besticht die Gestapo. Oftmals mit Erfolg, für den die verzweifelten Menschen ihm später berührende Zeichen der Dankbarkeit schenken. Die Werkstatt, die Verstecke, Fotos, Gedichte und jede Menge Information zu dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit könnt ihr im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in Mitte sehen.
Wann: Montag bis Freitag 9 - 18 Uhr, Samstag & Sonntag 10 - 18 Uhr
Wo: Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Straße 39, erster Hof, linker Aufgang, Mitte
Tipp 10: Genießt im Konzerthaus die Klangwelten der Komponistin Edi Tyrmand

Das wird ein ganz besonderer Herbstabend im Konzerthaus Berlin: Im Rahmen einer Konzertreihe wird die Musik der Komponistin Edi Tyrmand auf die Bühne gebracht, die während des Nationalsozialismus aus Polen flüchten musste und in Mynsk eine neue Heimat aufbauen konnte.
Oft sind damals verfolgte Komponist:innen und Musiker:innen und damit auch hervorragende Werke vergessen worden und werden nun als musica reanimata wiederbelebt. Lauscht den wundervollen Klängen von Geige und Klavier und erlebt später eine Unterhaltung zu ihrem Leben als Geflüchtete und der damaligen historischen Situation.
Wann: Freitag, 23. Oktober, 20 Uhr
Wo: Konzerthaus Berlin - Musikclub, Gendarmenmarkt, Mitte
Tipp 11: Seht die Ausstellung "Flucht. Fotografien aus Moldau, Armenien und Georgien"

Unser letzter Tipp für euch: Bestaunt ein außergewöhnliches Fotoprojekt. In den letzten drei Jahren fuhr der mehrfach ausgezeichnete Fotokünstler Frank Gaudlitz durch Moldau, Armenien und Georgien, wo er auf Menschen traf, die aus der Ukraine geflohen sind, deren Existenz vom russischen Angriffskrieg und seinen Folgen hart betroffen ist. Schaut euch etwa vierzig berührende Portraits von geflüchteten Menschen aus der Gegenwart an, entwurzelt und auf dem Weg ins Ungewisse. Interviews und Zitate untermalen ihre persönlichen Geschichten.
Wenn ihr die Fotos von Gaudlitz betrachtet, die Gesichter der Menschen und ihre Habseligkeiten, beziehungsweise was von ihnen übrig blieb, werdet ihr vielleicht denken, zu fliehen ist doch durch die Zeiten immer eine ähnliche menschliche Erfahrung. Am Anfang die Entscheidung aufzubrechen, dann der Verlust, möglicherweise Risiko, Gefahr und Verzweiflung, der Versuch möglichst schnell vorwärts zu kommen und das Hoffen - letztlich auf eine neue Geborgenheit und menschliche Hilfe.
Wann: 19. September 2025 bis 1. März 2026, Mittwoch bis Freitag 10 – 17 Uhr, Samstag & Sonntag 11 – 18 Uhr
Wo: Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, Dahlem